Mauerwerk und Lesesteine
Lesesteinhaufen und Trockenmauern – Mauerwerk also, das ohne Mörtel erstellt wird – entstanden über Jahrhunderte hinweg durch harte bäuerliche Arbeit, es sind charakteristische Elemente der traditionellen Kulturlandschaft. Im Mittelland wurden Steine, die beim Pflügen der Äcker an die Erdoberfläche gelangten, an den Feldrändern zu grossen Haufen geschichtet. Im Gebirge mussten Weiden und Wiesen nach den Lawinenniedergängen des Winters vom eingetragenen Material geräumt werden – auch hier entstanden zahlreiche Lesesteinhaufen und –wälle, die auch zur Abgrenzung von Parzellen dienten. Steinige Hanglagen wurden mit Trockenmauern terrassiert, um Kulturland zu gewinnen. Trockenmauern und Lesesteinhaufen sind nicht nur Zeugen einer Jahrhunderte alten landwirtschaftlichen Nutzungsgeschichte, sondern haben auch herausragende Bedeutung für Reptilien und andere Kleintiere: Die zahlreichen Spalten und Löcher zwischen den übereinandergeschichteten Steinen unterschiedlichster Grösse bieten Schlupfwinkel, Eiablageplätze und Winterquartiere in einem nahrungsreichen Umfeld. Auf oder neben den Mauern und Haufen finden sich hervorragende Stellen zum Sonnenbaden. Trockenmauern und Lesesteinhaufen gehören für Reptilien zu den wichtigsten Kleinstrukturen überhaupt. Sie werten jeden Reptilienlebensraum in besonders hohem Masse auf!
Noch heute gehören mit Bruchsteinmauern und Steinhaufen durchsetzte Rebberge, Kastanienselven, Weiden und Wiesen zu den arten- und individuenreichsten Reptilienlebensräumen der Schweiz. Mit Ausnahme der Sumpfschildkröte werden alle einheimischen Arten in diesen anthropogenen Lebensräumen angetroffen und können dort als Kulturfolgerinnen bezeichnet werden. Auf der Alpensüdseite ist die Mauereidechse an spalten- und höhlenreichem Mauerwerk innerhalb und ausserhalb von Siedlungen geradezu omnipräsent. Selbst die an und für sich stark ans Wasser gebundene Würfelnatter und Vipernatter besiedeln Bruchsteinmauern oder Lesesteinhaufen in Gewässernähe.
In ihren Landlebensräumen profitieren auch fast alle Amphibienarten von steinigen Kleinstrukturen, etwa die Erdkröte in den Feldrainen des Mittellandes, der Feuersalamander in den Rebbergen des Tessins und der Lavaux (VD) oder der Alpensalamander auf den lesesteinreichen Weiden des Alpenraums. Die Geburtshelferkröte besiedelt gerne Trockenmauern oder Lesesteinhaufen in der Nähe von Bauernhöfen mit Feuerlöschteichen.
Mauern in Trockenbauweise finden sich nicht nur im landwirtschaftlichen Umfeld, sondern auch als Stützbauwerke entlang von Wegen und Strassen sowie im Bereich von Siedlungen. Dann und wann ein Blick über das Geländer einer Alpstrasse im Engadin oder in die Ruinen eines zerfallenden Rusticos im Tessin lohnt sich bestimmt: Schlangen sonnen sich mit Vorliebe am Fuss von Trockenmauerwerk! Lesesteinhaufen und –wälle, aber auch Trockenmauern werden stark aufgewertet, wenn sie am Rand von mehrjährigen Krautsäumen ergänzt werden, die von allen einheimischen Echsen- und Schlangenarten gerne zum Sonnenbaden aufgesucht werden, weil sie dort Schutz vor Prädatoren finden.
Der Bau von Trockenmauern ist ein altes Kunsthandwerk, das mehr und mehr in Vergessenheit gerät. Trockenmauern richtig zu erstellen, zu pflegen und zu erhalten ist aufwändig und teuer, der Nutzen für viele Tier- und Pflanzarten aber enorm. Auch Lesesteinhaufen und Lesesteinwälle wollen gepflegt sein, ansonsten verbuschen sie zu stark und verlieren für Reptilien an Wert. Landwirte und Naturschutzorganisationen können einen wichtigen Beitrag zum Reptilienschutz leisten, wenn sie solche Strukturen fördern und pflegen!
In neuerer Zeit werden vor allem entlang von Verkehrswegen vermehrt Steinkörbe eingesetzt. Sie dienen in erster Linie der Stabilisierung von Böschungen oder Banketten. Da und dort funktionieren sie auch als Lärmschutzwände, oder sie werden zur naturnahen Umgebungsgestaltung eingesetzt. Steinkörbe sind wesentlich kostengünstiger als Trockenmauern, erfüllen aus Sicht der Reptilien aber vergleichbare Funktionen – sofern sie richtig gebaut sind! Informationen dazu finden sich im Kapitel Gefährdung und Schutz.